Montag, 2. März 2015

Die Neue Schule ist gut! – Wann kommt sie?

Wenn ich dsa nicht blad kapiere, dann wird man Ihnen das Gehalt kürzen!
Schule ist Business
Brauchen wir Notendruck und Zeugnisse, damit unsere Kinder gebildete Menschen werden? Die grossen Bildungs­reformer des 19. Jahr­hunderts sagen Nein. Die moderne Gehirn­forschung auch.

Das öffentliche Schulsystem

Die Schweiz hat ein hervor­ragendes Schul­system. Unseren Schülern wird viel abverlangt. Für eine höhere Bildung sind die Hürden deutlich höher als in unseren Nachbar­ländern. Aber auch bei uns fühlen sich immer mehr Schüler überfordert. Die Stoff­menge war nie so gross wie heute und die Anforder­ungen, diese in Prüfungen wiederzugeben, ebenso. Auch der Lehrplan 21 wird dieses Problemfeld nicht beseitigen. Die Schüler werden weiterhin streng beurteilt. Nur die Besten sollen an die Uni und später möglicher­weise Führungs­kräfte werden.
Dabei waren die wenigsten unserer Führungs­kräfte Muster­schüler. Wie viele von ihnen haben richtig um ihre Aner­kennung kämpfen müssen, wären im heutigen Schul­system der regel­mässigen Kontrolle und Normierung ausgesondert geworden? Die Einsicht, dass hier Per­sönlich­­keiten heranwachsen, konnten sie bei den Lehr­kräften, die sie beurteilten, nicht alle zeit­gerecht erzeugen. Und wer hat sich seine Chance dann über den zweiten Bildungs­weg oder eine Schule im Ausland erarbeitet? Trotz aller Umwege, es können alle Führungs­kräfte, nicht zuletzt in der Pädagogik, auf ihren Werde­gang stolz sein: Denn es zählt das Ergebnis und nicht das, was man am Weg dorthin hinter sich gelassen hat.

Wie schlecht ist unsere Welt?

Warum also reden die Gleichen heute davon, dass man unsere Kinder auf die Härte der Realität unserer Arbeitswelt vorbereiten muss? Dass das Kind lernen muss, mit Druck umzugehen und dem Tempo gewachsen zu sein? Wie viele von uns 30- bis 40-jährigen suchen sich heute den Arbeit­geber nicht nach der Lebens­qualität aus, die einem dort mitunter geboten wird? Nicht mehr Salär und Karriere allein sind entscheidend! Warum werden flache Hierarchien in Unter­nehmen immer populärer, und der Team­leiter hat als Coach die Rolle Chef ersetzt? Warum spricht man in der Arbeits­welt immer häufiger von Work-Life-Balance, in der Schule dürfen die Kinder davon aber nichts erfahren? Auf welche Zukunft bereiten die Schulen unsere Kinder eigentlich vor?
Wir wissen heute mehr über das richtige Lernen als noch vor 40 Jahren. Die moderne Gehirn­forschung kann genau belegen, dass Lernen unter Druck nicht funktioniert. Das bestätigt, was wir Erwachsenen intuitiv merken: Aus der Schul­zeit können wir kaum Wissen abrufen. Und wenn, dann nur deshalb, weil wir eine inter­essante oder angenehme (z.B. lustige) Situation damit verbinden. Deutsche Lehrer und Studenten kommunizieren ungeschminkt: Sie sagen Bulimie-Lernen zum Lernen, Wiedergeben und Vergessen.
Interessant ist, dass anerkannte Gehirn­forscher, wie z.B. Gerald Hüther, damit nicht nur die Menge des Stoffes meinen, sondern auch Prüfungen und das Geben von Noten generell! Das ist für uns erst einmal erschreckend, die wir mit Prüfungs­­angst und Noten­druck aufwachsen sind. Wer von uns ist nicht froh, die Schule – und wir meinen damit Prüfungen und Benotung – hinter sich gelassen zu haben? Trotzdem können wir uns nichts Besseres vorstellen. Muss das so sein?

Die Neue Schule

Wie würde Schule aussehen, wenn es noch keine gäbe und wir sie völlig neu erschaffen müssten? Sicher nicht so, wie sie heute ist, sagt z.B. der Best­seller­­autor Richard David Precht. Denn wir würden uns mit Bildungs­­experten und Gehirn­forschern zusammen­setzen und ein System schaffen, das neue Mass­stäbe setzt:
  1. Kinder werden von innen (intrinsisch) motiviert zu lernen, nicht durch Noten­druck gezwungen.
  2. Selbständiges Lernen in Workshops mit begeisterten Coaches (nicht Prüfern) ermöglicht Begabten, schneller und mehr zu lernen, während Langsamere mit ihrem eigenen Lerntempo zum Ziel kommen.
  3. Regelmässige Projekte ermöglichen den Schülern, die Zusammen­hänge und das Zusammen­spiel von Geographie, Geschichte, Physik, Chemie, Deutsch, Ökonomie, Politik, usw. zu verstehen und sich einzu­prägen – es gibt keine abge­schotteten Fächer mehr. Regel­mässige Tages­besuche von Lern­stätten zum angewandten Lernen (z.B. Technorama Winterthur) sind Normalität.
  4. Starke soziale Gemeinschaften und die gelebte gegenseitige Rück­sicht­nahme, Förderung und Zusammen­arbeit lassen unsere Schüler die vielleicht wichtigste Fähigkeit für ihr späteres Berufs­leben lernen: Team­fähigkeit.
  5. Mehrere Lehrer führen meist gemeinsam eine Klasse und den Unterricht, und können damit viel intensiver auf die Stärken und förderungs­würdigen Merkmale jedes Schülers eingehen.
  6. Unsere Kinder gehen täglich mit Euphorie zur Schule und identifi­zieren sich mit ihr wie mit ihrem liebsten Sportklub: Die Schüler sind stolz aufeinander, sie inspirieren und motivieren sich wechsel­seitig.
  7. Die Architektur der Schulen wandelt sich immer mehr in Richtung Campus, mit Nischen, Rück­zugs­orten, Begegnungs­räumen und kommt damit den Bedürf­nissen lernender Menschen entgegen.
  8. Kinder lernen in eigenen Trainings sich bewusst zu konzentrieren, sich zu sammeln, zur Ruhe zu kommen, um in der ganz normalen Welt der Reiz­über­flutung selbst die Grund­lagen für erfolg­reiches Lernen zu schaffen.
  9. Das individuelle Lerntempo jedes Schülers bewirkt, dass Beur­teilungen anders aussehen als heute: Die Beschreibung des Lern­fort­schritts ersetzt die (ursprüng­lich militärisch motivierten) Noten; die schwierige Aufgabe der gerechten Note (z.B. bei Referaten oder Gedichten) ist für viele Lehrer endlich Ver­gangen­heit.
  10. Die Schule am Nachmittag macht Hausaufgaben überflüssig und auch die Lehrer dürfen nach Schulende endlich frei haben.

Lernen! Nicht benotet werden

Heinrich Pestalozzi (1746 - 1827)
Heinrich Pestalozzi, der Schweizer Pädagoge, nach dem die Kreuzlinger Pestalozzi Schule benannt ist, wollte nicht, dass Kinder miteinander verglichen werden, und hat Noten und Zeugnisse daher strikt abgelehnt. Prüfungen gab es demnach nicht. Den Schul­stoff liess Pestalozzi in Gruppen­arbeit und Gruppen­unter­richt lehren. Schüler, die eine Sache begriffen hatten, wurden sogleich als Lehrer für ihre Mitschüler eingesetzt. Wanderungen in die Alpen über mehrere Wochen waren als Anschau­ungs­unter­richt geführt, in denen Schüler nicht nur Naturkunde und Geographie sondern auch das Studieren von Orts- und Reise­beschreib­ungen und Landkarten praktizierten.
Die Reformpädagogen Rudolf Steiner und Maria Montessori, übrigens, bliesen in das gleiche Horn: Wissensvermittlung wird als altersgerechte Begleitung des Kindes bis hin zu Erziehung [...] ist vor allem Selbsterziehung verstanden, und Hilf mir, es selbst zu tun ist das Leitmotiv. Sogar schon Wilhelm von Humboldt stellte die Bildung (zum Unterschied zur berufs­orientierten Ausbildung) in den Vordergrund, auch wie Pestalozzi mit dem Ziel, es der Gesamt­bevölker­ung ohne Unter­scheidung – nicht nur einer Elite­schicht – zukommen zu lassen. Kein Wort ernsthaft auch nur irgendwo von Noten und Prüfungen!
Pestalozzi war also mehr als nur ein Pädagoge, der die damals übliche physische Gewalt an Schülern ablehnte. Er war damals schon näher an dieser neuen Schule als wir heute. Wird es nicht Zeit, wenigstens seine Kern­ideen voll­ständig umzusetzen? Was sagen unsere Politiker dazu?

Quellen

Veröffentlicht in: Schulnotizen, Ausgabe 2, 2015 der Rudolf Steiner Schule Kreuzlingen. Dieser Artikel entstand vor der Wahl des Schulpräsidenten Kreuzlingen als Gastkommentar.